You are currently viewing Barrierefreiheit bei Veranstaltungen – Hinschauen statt Wegschauen

Barrierefreiheit bei Veranstaltungen – Hinschauen statt Wegschauen

Ein Interview mit: Katja Kerschgens – Rhetorik- und Schlagfertigkeitstrainerin.

(geführt für das EVENTCAFÉ von HOFFMANN EVENTBERATUNG)

Seit 2001 trainiert Katja Kerschgens bundesweit eine umfangreiche Bandbreite von Teilnehmern in Rhetorik und Schlagfertigkeit. Zu ihnen gehören u.a. Chefsekretärinnen und Geschäftsführer, Finanzvertriebler, Frauen im Handwerk, Landwirte, Politiker und Professorinnen, aber auch Techniker oder Verkäufer. Darüber hinaus bietet die Germanistin, Journalistin, Trainerin und Autorin Textarbeit für die Presse, Fachredaktionen und viele weitere Publikationen an. Sie lebt und arbeitet in der Eifel.

K. Hoffmann-Wagner: Rhetoriktrainer kennt man – vielleicht auch aus eigener Erfahrung. Aber was genau macht eine Redenstrafferin und an wen richtet sich Dein Angebot?

Katja Kerschgens: Wir alle sind oft genug Zeugen von langatmigen, fachwortbespickten, PowerPoint-lastigen Vorträgen. Ich sorge dafür, dass Redner straffe Reden halten. Wobei straff nicht immer kurz, aber unbedingt kurzweilig heißt! Oder mit anderen Worten: Ich bin auf der Mission gegen den Missbrauch von Lebenszeit. Ich trainiere und coache seit 2001 Teilnehmer quer durch alle Zielgruppen.

Im Gegensatz zu anderen EVENTCAFÉ-Interviews möchte ich mit Dir nicht vorrangig über Dein Unternehmen sprechen, sondern über Deine ganz eigenen Erfahrungen im Bereich Barrierefreiheit. Der Grund, warum wir beide heute darüber sprechen ist, dass sich bei Dir derzeit ein Perspektivenwechsel vollzieht. Wie sieht dieser aus?

Seit über 20 Jahren lebe ich mit der Diagnose MS – Multiple Sklerose. Seit drei, vier Jahren werden die Einschränkungen unübersehbar. Mein Gangbild hat etwas von Trunkenheit, daher besitze ich jetzt einen Gehstock, der mir Sicherheit gibt. Einen schicken, versteht sich. ?

Für lange Strecken – zum Beispiel in Fußgängerzonen, Museen, großen Geschäften, greife ich auf meinen ersten Rollstuhl zurück. Aber das mache ich nur, wenn ich jemanden dabei habe, sonst verzichte ich eben. Alleine fahre ich (noch) nicht, da fehlt mir die Übung, die Kraft, die Geduld angesichts der vielen Hindernisse. Der Perspektivenwechsel läuft immer noch: Stufen, lange Wege, Toiletten am anderen Ende eines langen Ganges – die Welt ist mir zu groß geworden, die Stolpersteine werden täglich mehr.

Was hat sich durch Deine Krankheit in Deiner Arbeit als Trainerin und Rednerin verändert?

Als Rhetoriktrainerin und Speakerin mache ich kurzerhand ein neues Thema für meine Zuhörer daraus, verbunden mit Lebensbotschaften durch die Art und Weise, wie ich mit der Krankheit umgehe. Bei meiner Arbeit scheue ich mich nicht davor, mir helfen zu lassen. Mein Seminarmaterial dürfen dann gerne mal andere tragen, ich setze mich öfters hin vor meinen Teilnehmern und gehe offen mit all dem um. Die Reaktionen und die Hilfsbereitschaft der Menschen berühren mich jedes Mal. Der Gehstock ist dabei zum Zauberstab geworden: Er macht sofort deutlich, dass ich Einschränkungen habe, ohne dass ich gleich meine gesamte Krankengeschichte herunterleiern muss. ;o)

Du bist selbst auf Veranstaltungen oder auch Messen unterwegs. Fallen Dir heute, z.B. bei den Locations, Messen und Ausstellern, andere Dinge auf als früher?

Mir war vorher nie bewusst geworden, wie oft nur Stehtische angeboten werden, wie weit die Toiletten manchmal entfernt sind oder wie viele Treppen sich zwischen Räumen befinden können. Und überhaupt: Wie riesengroß Messe- und Kongresshallen sind! Was für andere Menschen ein paar Meter mehr sind, wird für mich ein unüberwindbares Hindernis. Im Moment verzichte ich auf viele Veranstaltungen, außer, ich kenne die Räumlichkeiten gut oder kann den Rollstuhl und eine Begleitperson mitnehmen.

Suchst Du heute Seminarräume für Deine eigenen Seminarangebote anders aus, als Du es vielleicht vor Deiner Diagnose getan hast?

Meistens werden die Räume von meinen Kunden oder Kooperationspartnern ausgesucht. Jetzt, wo die Einschränkungen mir immer mehr Schwierigkeiten bereiten, rufe ich mittlerweile vorher an, frage nach den Parkmöglichkeiten, den Gehstrecken oder sonstiger Unterstützung. Auch bei Hotels äußere ich mittlerweile klare Wünsche. Mit Gepäck eine Treppe hinauf, geschweige denn hinunter, das ist mittlerweile nicht mehr machbar. Daher bin ich auf Aufzüge angewiesen. Diese Entwicklung ging sehr schnell, da darf und muss ich selbst jeden Tag dazulernen.

Mobilität und Zugänglichkeit sind für Dich immer wichtiger werdende Themen bei Deiner Arbeit als Unternehmerin. Bleiben wir bei dem Bereich der Veranstaltungen und Locations. Sind diese aus Deiner Sicht barrierefrei genug, um mit einer Mobilitätseinschränkung ohne Probleme teilnehmen zu können?

Solange ich mit dem Stock unterwegs bin, sind vor allem die langen Gehstrecken schwierig. Auch längeres Stehen fällt mir schwer. Habe ich meinen Rolli dabei, bin ich erst recht auf Hilfe angewiesen, um kleine Stufen oder ähnliches zu überwinden. Und es gibt sie überall, jetzt sehe ich sie alle! Es gibt keine Locations, die nicht irgendeinen Haken haben, das wäre sicherlich auch zu viel verlangt. Aber es wäre hilfreich, wenn Veranstalter mal andere Perspektiven einnehmen würden, um all diese kleinen Hindernisse überhaupt wahrzunehmen.

In Gesprächen über Barrierefreiheit höre ich oft das Argument, der Bedarf z.B. an barrierefreien Messeständen sei zu gering, als dass man den Aufwand betreiben sollte, in diese Richtung zu planen. Wie siehst Du das?

Je mehr ich eingeschränkt werde, umso mehr verzichte auf Großveranstaltungen wie Messen etc. So werden sicher auch viele Rollstuhlfahrer Veranstaltungen meiden, die nicht barrierefrei sind. Veranstalter können dann leicht sagen: Wir haben hier keine Gäste oder Kunden mit Einschränkungen. Das gute alte Henne-Ei-Problem! So bleiben die Welten getrennt. Gut wäre es, die Locations barrierefrei(er) zu gestalten und das deutlich zu bewerben!

Wie sieht für Dich die perfekte Eventlocation aus, wenn Du sie Dir wünschen könntest?

Das könnte ich für meine persönlichen Einschränkungen schon sagen, aber es gibt ja noch viele andere. Eine solche Eventlocation könnte erreicht werden, wenn Veranstalter verschiedene Testpersonen mit unterschiedlichen Behinderungen mit in die Planung einbeziehen, sie die Location beurteilen lassen würden. Vielleicht ein Geschäftsmodell?

Wenn Du jetzt noch drei Wünsche in Bezug auf Barrierefreiheit hättest, die Du an den Veranstalter, z.B. eines Kongresses für Rhetorikexperten, richten könntest, welche wären das?

Hinschauen statt wegschauen. Barrierefreiheit nicht als Muss, sondern als spaßvolle Herausforderung annehmen. Weg vom Betroffenheitsblues hin zu intensivem Austausch.

Auf was freust Du Dich in der nächsten Zeit am meisten?

Auf die Convention der German Speakers Association im September. Ich kenne die Location in München bereits, das erleichtert es mir. Aber die Gehstrecken bleiben auch dort lang. Oder auf die Rednernacht in Köln im November, denn da werde ich nicht alleine hingehen, das erleichtert auch vieles.

Ich danke Dir sehr für dieses offene Gespräch, liebe Katja!

(Das Interview führte Kerstin Hoffmann-Wagner)

Schreibe einen Kommentar